Kinderhospizdienst Ruhrgebiet e.V.

Gedichte & Gedanken

Umleitung

Wir fuhren auf gerader Strecke,
vorbei an kleinen, feinen Häuschen mit geordneten Vorgärten, an akkurat
geschnittenen Rasenflächen, alles ordentlich und geregelt,
in Richtung Zukunft in rosarot. Alles war wunderbar.
Wir wollten gerade Vollgas geben als uns ein großes Schild den Weg versperrte,
auf dem stand "Umleitung".
Wir wollten das Schild zur Seite schieben,
an ihm vorbei fahren,
es gelang uns nicht.
Wütend und traurig fuhren wir den anderen Weg.
Je länger wir fuhren desto anstrengender wurde die Reise.
Es wurde manchmal so anstrengend, dass wir uns
anschrien und tobten und unseren kleinen, damals dreijährigen Sohn auf dem Rücksitz
fast vergaßen.
Hier und da klopften freundliche Leute an unsere Scheibe,
die uns Proviant für unsere Reise reichten.
Dadurch schöpften wir wieder Kraft.
Wären wir nicht den Umweg gefahren,
hätten wir diese netten Menschen niemals kennen gelernt.
Die Wut schwand und wir fuhren die Umleitung und ärgerten uns nicht mehr so sehr
darüber.
Nun saß auch unsere kleine Tochter mit im Auto.
Sie schaute aus dem Fenster und war glücklich, dass sie da war.
Sie zeigte uns die wunderschönen Blumen, die am Wegesrand wuchsen.
Wild und durcheinander wuchsen dort die schönsten Blumen, die wir je gesehen
haben.
Waren sie schon die ganze Zeit da?
Sie sind uns vorher gar nicht aufgefallen!
Wir hielten an, pflückten einen wunderschönen Blumenstrauß
und genossen gemeinsam diesen tollen Duft.
Niemals hätten wir diese Blumen gesehen,
wären wir den geraden weg gefahren.

Wir fahren nun diesen Weg mit allen Schwierigkeiten, denn
wir wissen er führt auch zum Ziel.
Steine, die im Weg liegen versuchen wir gemeinsam bei Seite zu räumen.

Manchmal wird die Zukunft rosarot,
manchmal bunt,

das kommt ganz auf den Blickwinkel an.

Manuela Karschuck

Willkommen in Holland

Ich werde oft gefragt zu erklären, wie man sich fühlt ein Kind aufzuziehen, das eine Behinderung hat. Um Leuten das Gefühl dieser einzigartigen Beziehung zu erklären, benutze ich gerne eine Parabel. Es ist so ...

Wenn man ein Baby bekommt, ist es so, als ob man sich auf eine fantastische Reise begibt - nach Italien. Man kauft eine Menge an Touristenführern und macht wundervolle Pläne. Das Kolosseum. Den Michelangelo-David. Die Gondeln in Venedig. Man lernt bestimmt auch ein paar Wörter auf Italienisch. Kurz: es ist eine sehr schöne Zeit. Nach einigen Monaten der schönen Vorbereitung ist endlich der große Tag da. Du packst deine Koffer. Einige Stunden später, das Flugzeug landed. Die Stewardess kommt und sagt "Willkommen in Holland"

"Holland?!?" sagst du. "Was meinen Sie? Ich habe doch einen Urlaub nach Italien gebucht! Ich soll doch in Italien sein. Mein ganzes Leben habe ich davon geträumt nach Italien zu fliegen." Aber da war eine Flugplanänderung. Der Flieger ist in Holland gelandet und du musst da bleiben. Das Wichtigste ist, dass du nicht in einem dreckigen, seuchenverpesteten Land gelandet bist. Es ist nur anders!

Also, jetzt fängst du wieder an und kaufst neue Touristenführer. Du musst jetzt eine völlig neue Sprache lernen. Und du wirst eine total neue Gruppe von Menschen treffen, die du vielleicht niemals kennen gelernt hättest, wenn die Dinge anders wären. Es ist nur ein anderer Ort. Es ist langsamer als Italien, vielleicht nicht so viel Glamour. Aber wenn du eine Zeit lang dort bist, merkst du schnell, dass es auch seine Vorteile hat. Du fängst an, um dich zu schauen: Holland hat wunderschöne Windmühlen, Holland hat Tulpen. Holland hat sogar Rembrandt.

Aber jeder, den du kennst, ist zu beschäftigt, die Schönheit Hollands zu erkennen, denn alle sind auf dem Weg nach Italien. Alle erzählen wie toll es doch in Italien ist und was für eine tolle Zeit der Urlaub doch war. Und - für den Rest deines Lebens wirst du dir sagen: "Ja, das ist der Urlaub den ich geplant hatte! (Italien) Da wollte ich auch hin!!" Und das Gefühl verletzt zu sein, einen Traum verloren zu haben, wird nie verschwinden. Denn ein großer Traum ist nicht wahr geworden, ein großer Verlust!

Aber wenn du immer und immer wieder den Verlust deines Italienurlaubs beweinst, wirst du niemals die Schönheit Hollands und dessen spezielle Sehenswürdigkeiten sehen, kennen und lieben lernen. Denn Holland ist - genauso wie Italien - eine Erfahrung für sich und den Betrachter.

Emely Perl Kingsley

Wir haben alle gleich viel

An einem warmen Sommertag hatte die Eintagsfliege um die Krone eines alten Baumes getanzt, gelebt, geschwebt und sich glücklich gefühlt.
Als sich das kleine Geschöpf einen Augenblick in stiller Glückseligkeit auf den großen, frischen Blättern ausruhte, so sagte der Baum: "Arme Kleine! Nur ein Tag währt dein ganzes Leben! Wie kurz das ist! Wie traurig!"

"Traurig?" erwiderte dann stets die Eintagsfliege, was meinst du damit? Alles ist so herrlich licht, so warm und schön, und ich selbst bin glücklich!"

"Aber nur einen Tag, und dann ist alles vorbei!"

"Vorbei?" sagte die Eintagsfliege, "Was ist vorbei? Bist du auch vorbei?"

"Nein, ich lebe vielleicht Tausende von deinen Tagen, und meine Tage sind ganze Jahreszeiten! Das ist etwas so Langes, dass du es gar nicht ausrechnen kannst!"

"Nein, denn ich verstehe dich nicht! Du bist Tausende von meinen Tagen, aber ich habe Tausende von Augenblicken, in denen ich froh und glücklich sein kann! Hört denn alle Herrlichkeit dieser Welt auf, wenn du einmal stirbst?"

"Nein", sagte der Baum, "die währt gewiss länger, unendlich viel länger, als ich denken kann!"

"Aber dann haben wir ja gleich viel, nur dass wir verschieden rechnen!"

Hans Christian Andersen


Die Spezialmutter

Die meisten Frauen werden durch Zufall Mutter. Manche freiwillig, einige unter gesellschaftlichem Druck und ein paar aus Gewohnheit.
Dieses Jahr werden 100.000 Frauen Mütter behinderter Kinder werden. Haben Sie sich schon einmal Gedanken gemacht, nach welchen Gesichtspunkten die Mütter behinderter Kinder ausgesucht werden?

Ich stelle mir Gott vor, wie er über der Erde schwebt und sich die Werkzeuge der Arterhaltung mit großer Sorgfalt und Überlegung aussucht. ER beobachtet genau und diktiert seinen Engeln Anweisungen ins Hauptbuch.
"Maier, Irmgard: Sohn; Schutzheiliger Matthias.
Förster, Margot: Tochter; Schutzheiliger: Cäcilie.
Röster, Carola: Sohn; Schutzheiliger: Gebt ihr Gerhard, der ist es gewöhnt, dass geflucht wird."

Schließlich nennt er einem Engel einen Namen und sagt lächelnd: "Der gebe ich ein behindertes Kind."
Der Engel ist neugierig: "Warum gerade ihr, oh Herr? Sie ist doch so glücklich."
"Eben deswegen", sagte Gott lächelnd. Kann ich einem behinderten Kind keine Mutter geben, die das Lächeln nicht kennt? Das wäre grausam."
"Aber hat sie denn die nötige Geduld?", fragte der Engel.
"Ich will nicht, dass sie zu viel Geduld hat, sonst ertrinkt sie in einem Meer von Selbstmitleid und Verzweiflung. Wenn der erste Schock und Zorn abgeklungen sind, wird sie es tadellos schaffen. Ich habe sie heute beobachtet. Sie hat den Sinn für Selbständigkeit und Unabhängigkeit, der bei Müttern so selten und so notwendig ist. Verstehst Du, das Kind das ich ihr schenken werde, wird in seiner eigenen Welt leben. Und sie muss es zwingen, in der ihren zu leben. Das wird nicht leicht."

"Aber Herr, soviel ich weiß, glaubt sie nicht einmal an Dich."
Gott lächelt: "Das macht nichts, das bringe ich schon in Ordnung. Nein, sie ist hervorragend geeignet. Sie hat genügend Egoismus."

Der Engel ringt nach Luft. "Egoismus? Ist das denn eine Tugend?"
Gott nickt. "Wenn sie sich nicht gelegentlich von dem Kind trennt, wird sie das alles nicht überstehen. Diese Frau ist es, die ich mit einem nicht ganz vollkommenen Kind beschenken werde. Sie weiß es zwar noch nicht, aber sie ist zu beneiden. Nie wird sie ein gesprochenes Wort als eine Selbstverständlichkeit hinnehmen. Nie einen Schritt als etwas Alltägliches. Wenn ihr Kind zum ersten Mal Mama sagt, wird ihr klar sein, dass sie ein Wunder erlebt. Wenn sie ihrem blinden Kind einen Baum, einen Sonnenuntergang schildert, wird sie ihn so sehen, wie nur wenige Menschen meine Schöpfung jemals sehen. Ich werde ihr erlauben, alles deutlich zu erkennen, was auch ich erkenne - Unwissenheit, Grausamkeit, Vorurteile - und ich werde ihr erlauben, sich darüber hinaus zu erheben. Sie wird niemals allein sein. Jeden Tag ihres Lebens, jede Minute, weil sie meine Arbeit ebenso sicher tut, als sei sie hier neben mir."

Heike Lapzien, Dorsten